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Die Wissenschaft hinter sicherer Bewegung im städtischen Raum

Wer sich in einer Stadt bewegt, vertraut darauf, dass alles irgendwie funktioniert. Menschen überqueren Straßen, fahren mit dem Fahrrad zur Arbeit oder steigen aus der U-Bahn – ohne ständig darüber nachzudenken, ob sie sicher sind. Hinter diesem scheinbaren Selbstverständnis steht eine hochkomplexe Planung. Sie basiert auf Erkenntnissen aus Psychologie, Technik, Verkehrsverhalten und Gestaltung. Damit Menschen sich sicher und flüssig durch den urbanen Raum bewegen, müssen viele unsichtbare Details perfekt zusammenspielen.


Sicherheit beginnt im Kopf

Menschen sind visuelle Wesen. Sie orientieren sich an Linien, Farben, Mustern und Formen. Die Stadt wird dabei zur Bühne eines psychologischen Zusammenspiels zwischen Wahrnehmung und Reaktion. Was wir als intuitiv empfinden, ist das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung: Wo etwas markiert ist, erwarten wir Ordnung. Wo nichts markiert ist, entsteht Unsicherheit. Die Reaktion darauf beeinflusst, wie wir uns bewegen – ob zu Fuß, mit dem Rad oder im Auto.

Gute Gestaltung reduziert Stress. Studien zeigen, dass klare Raumstrukturen das Verhalten beruhigen, weil sie kognitive Last abnehmen. Wer nicht ständig überlegen muss, wo er gehen oder fahren darf, trifft bessere Entscheidungen – und bleibt seltener stehen, zögert oder reagiert hektisch. Diese sogenannte kognitive Entlastung ist einer der Hauptfaktoren für sichere Mobilität.

Die stille Macht der Muster

Design ist nicht nur schön – es ist funktional. Besonders im Straßenraum entscheidet es darüber, wie Verkehrsteilnehmer miteinander interagieren. Dabei kommt es nicht nur auf Regeln an, sondern auf deren visuelle Umsetzung. Farben, Linien, Symbole und Oberflächenbeschaffenheit erzeugen eine Art stilles Betriebssystem, das uns leitet.

Ein gutes Beispiel dafür sind taktile Elemente im Bodenbelag. Wer über kleine Rillen oder Noppen läuft, weiß – hier endet der sichere Weg oder beginnt ein Übergang. Diese Details wirken auf den ersten Blick unbedeutend, doch sie entscheiden über Orientierung und Barrierefreiheit. Was sehende Menschen als Muster sehen, erkennen andere über den Tastsinn. Auch hier wird Sicherheit über Gestaltung vermittelt, nicht über Kontrolle.

Farblich abgesetzter Radweg mit weisser Strassenmarkierung, roter Signalzone und Pollern als Beispiel fuer funktionales Verkehrsdesign

Technik, die den Menschen versteht

Moderne Verkehrsplanung integriert zunehmend Erkenntnisse aus der Neuropsychologie. Wo Menschen abgelenkt sind – etwa durch Smartphones –, muss die Umgebung aktiver kommunizieren. Intelligente Lichtsysteme an Zebrastreifen, Bewegungsmelder oder akustische Warnsignale sind Beispiele für Technik, die sich dem Verhalten der Nutzer anpasst.

Dazu kommen digitale Simulationen, mit denen Stadtplaner Gefahrenquellen erkennen, bevor sie gebaut werden. In sogenannten Walkability-Analysen wird getestet, wie sich Menschen in geplanten Arealen bewegen würden. Die Ergebnisse helfen dabei, Engstellen, tote Winkel oder Verwirrungspunkte zu beseitigen, bevor sie Realität werden. Denn jedes zusätzliche Schild, jede Bodenmarkierung, jede kleine Veränderung kann Entscheidendes bewirken – oder versagen, wenn sie falsch eingesetzt wird.

Wie Straßenräume Vertrauen erzeugen

Sicherheit im öffentlichen Raum ist keine technische, sondern eine soziale Leistung. Wenn sich Menschen sicher fühlen, verhalten sie sich kooperativer. Der Begriff „Safety by Design“ bezeichnet das Prinzip, Sicherheit nicht durch Kontrolle, sondern durch Gestaltung zu erzeugen.

Ein Beispiel dafür ist die Reduktion von Ampeln in sogenannten Shared Spaces. In solchen Zonen verzichten Städte bewusst auf Signale und Regeln. Stattdessen verlassen sie sich auf visuelle Hinweise – etwa durch Belagswechsel, Bodenfarben oder Pflastermuster – um Interaktion zu fördern. Wer sich begegnet, muss Blickkontakt herstellen, Rücksicht nehmen, kommunizieren. Die Erfahrung zeigt: Wo Kontrolle abnimmt, steigt oft das Verantwortungsgefühl.

Damit das gelingt, müssen alle Details stimmen – auch die, die unscheinbar wirken. In solchen Zonen kommt es unter anderem auf die richtige Platzierung von Orientierungshilfen, Pflanzinseln oder eben auch Markierungen an. Denn nur, wenn der gesamte Raum funktioniert, entsteht das nötige Vertrauen, um ihn frei zu nutzen.

Eine Wissenschaft der Nuancen

Dass ein Streifen Farbe auf dem Asphalt Menschenleben schützen kann, mag banal wirken – und doch ist es so. Die Straßenmarkierung, oft übersehen, ist ein Beispiel dafür, wie kleine Details große Wirkung entfalten. Ihre Position, Form, Breite und Farbe folgen einem strengen Kodex, der nicht nur rechtlich geregelt, sondern auch wissenschaftlich begründet ist. Studien zur Blickführung, Fahrverhalten bei Nässe oder Wahrnehmbarkeit aus verschiedenen Winkeln fließen in ihre Gestaltung ein.

Doch selbst die beste Markierung nützt wenig, wenn sie verblasst, falsch platziert oder im Winter unlesbar ist. Deshalb setzen viele Städte inzwischen auf thermoplastische Materialien, die langlebiger und kontrastreicher sind. Diese Entwicklung ist nicht zufällig, sondern Teil eines größeren Trends: Infrastruktur muss nicht nur gebaut, sondern verstanden werden – technisch, visuell und psychologisch.

Wenn Planung unsichtbar wird

Der größte Erfolg moderner Stadtplanung ist ihre Unsichtbarkeit. Wenn alles funktioniert, nehmen wir es nicht wahr. Niemand denkt beim Überqueren eines Platzes daran, wie viel Technik, Forschung und Gestaltung in seiner Sicherheit stecken. Und doch basiert genau darauf der Fortschritt: dass Städte Lebensräume sind, die komplexe Systeme so klug einsetzen, dass sie sich in Selbstverständlichkeit auflösen.

In diesem Zusammenspiel ist die Straßenmarkierung nur ein Rädchen – aber ein zentrales. Sie verbindet Disziplinen wie Design, Verkehrspsychologie und Materialforschung. Sie hilft dabei, aus Theorie Praxis zu machen und aus Theorie Vertrauen. Und genau dieses Vertrauen ist der wahre Wert urbaner Sicherheit.

Weisse Strassenmarkierung in Form einer gehenden Person auf schwarzem Asphalt zur Orientierung von Fussgaengern


„Sicherheit beginnt schon beim Material“

Ein Gespräch mit Lena Hirsch, Beraterin für urbane Verkehrsplanung

regio-ratgeber.com hat mit Lena Hirsch gesprochen. Sie ist Expertin für Stadtgestaltung und berät Kommunen bei der Umsetzung sicherer Verkehrsflächen.

Frau Hirsch, woran erkennt man eine gut gestaltete urbane Verkehrsfläche?
In erster Linie an der Selbstverständlichkeit, mit der sie funktioniert. Menschen finden sich intuitiv zurecht, ohne viel nachzudenken. Es gibt keine Irritationen, keine erzwungene Orientierung. Wenn niemand stehen bleibt, um zu überlegen, ist die Planung meist gelungen.

Was wird in Ihrer Arbeit oft unterschätzt?
Die Materialwahl. Viele denken, es gehe nur um Ästhetik oder Vorschriften. Dabei spielt es eine zentrale Rolle, wie sich Oberflächen anfühlen, wie sie bei Regen reflektieren oder ob sie sich durch Witterung schnell abnutzen. Auch die Position von Objekten wie Pollern, Fahrradständern oder Wartebereichen wird oft erst im Betrieb kritisch – etwa wenn sich Menschen gegenseitig den Weg versperren.

Wie viel Wissenschaft steckt hinter vermeintlich simplen Lösungen wie einem Fußgängerüberweg?
Eine Menge. Es geht um Sichtachsen, Reaktionszeit, Kontrastverhältnisse, Lichtreflexion, aber auch um das Zusammenspiel von Umgebung und Verkehrsfluss. Ein Zebrastreifen funktioniert nicht überall gleich. Wenn etwa Lichtverhältnisse oder Fahrgeschwindigkeiten variieren, muss man anders planen. Das betrifft sowohl Leitelemente als auch die Art der Straßenmarkierung, die im Idealfall auch bei Nässe oder Dämmerung eindeutig bleibt.

Wie stark fließen psychologische Erkenntnisse in Ihre Planung ein?
Zunehmend. Wir wissen heute viel darüber, wie Menschen Räume erleben und worauf sie unbewusst reagieren. Ein Beispiel: Farben beeinflussen das Verhalten massiv. Wenn ein Bereich rot eingefärbt ist, meiden ihn viele automatisch – ganz ohne Verbotsschild. Auch Bodenbeläge mit Struktur erzeugen bestimmte Reaktionen: Sie dämpfen das Tempo, ohne dass es eine Regel braucht. Das nutzen wir gezielt.

Was ist der häufigste Fehler, den Sie in Städten beobachten?
Zu viele Informationen auf einmal. Schilder, Linien, Hinweise – oft wird alles auf engem Raum platziert. Das überfordert Nutzer, besonders ältere Menschen oder solche mit Beeinträchtigungen. Besser ist eine klare, reduzierte Sprache im Raum. Weniger ist mehr – aber das Wenige muss sitzen.

Gibt es eine Stadt, die Sie in Sachen Gestaltung besonders beeindruckt hat?
Ja, Kopenhagen. Dort wird extrem vorausschauend gedacht. Viele Quartiere wurden gemeinsam mit Anwohnern geplant. Man sieht dort sehr gut, wie Beteiligung zu besseren Lösungen führt – weil die Leute dann mitdenken. Es gibt viele kreative Elemente, aber nie auf Kosten der Funktion. Auch der Winterbetrieb ist dort erstaunlich durchdacht.

Und wenn Sie eine Sache im deutschen Städtebau sofort ändern könnten – was wäre das?
Mehr Mut zur Reduktion. Wir planen oft aus der Angst heraus, dass etwas nicht reicht. Dabei übersehen wir, dass Überinformation genauso gefährlich sein kann. Wer den Raum versteht, braucht keine Anleitung. Wir sollten wieder stärker darauf vertrauen, dass Gestaltung auch Denken lenkt – nicht nur Bewegung.

Frau Hirsch, vielen Dank für das Gespräch.


Räume, die denken, statt belehren

Sichere Bewegung im städtischen Raum entsteht nicht durch Kontrolle, sondern durch Verständlichkeit. Wo Gestaltung klug eingesetzt wird, entsteht Orientierung – und daraus Sicherheit. Ob mit Farben, Licht, Materialien oder Formen: Die besten Lösungen sind die, die wir nicht hinterfragen müssen, weil sie intuitiv wirken. Denn ein Raum, der verstanden wird, muss nicht erklärt werden. Und genau deshalb funktioniert er.

Bildnachweis: MYKHAILO KUSHEI, aubriella, miss irine / Adobe Stock